Das Rhein-Main-Exegesetreffen trauert um sein langjähriges Mitglied Professor i.R. Dr. Winfried Thiel (1940-2024). Winfried Thiel war von 1992 bis zu seinem Ruhestand 2005 Lehrstuhlinhaber für Altes Testament mit dem Schwerpunkt Exegese und Geschichte Israels an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Ruhr-Universität Bochum.
1940 in Cottbus geboren entschied er sich unter den Bedingungen der damaligen DDR für das Studium der Theologie, zunächst am Sprachenkonvikt und später an der Humboldt-Universität in Berlin. Dort promovierte er mit einer wegweisenden Arbeit zur Redaktionsgeschichte des Jeremiabuches. Seine über 1000 Seiten starke Habilitationsschrift „Die soziale Entwicklung Israels in vorstaatlicher Zeit“ konnte nur in Auszügen erscheinen.
1982 folgte Thiel von Ost-Berlin aus einem Ruf der Philipps-Universität nach Marburg – unter den damaligen politischen Bedingungen ein hochriskanter Schritt. 1992 erfolgte die Berufung als Nachfolger seines akademischen Lehrers Siegfried Herrmann nach Bochum.
Thiels Qualifikationsarbeiten, denen eine große Fülle weiterer Veröffentlichungen bis ins hohe Alter hinein folgte, beschreiben seine Interessensgebiete – die Prophetie mit besonderem Blick auf die Redaktionsgeschichte sowie die geschichtliche und sozial-geschichtliche Entwicklung des antiken Israel, verbunden mit besonderem Augenmerk auf das deuteronomistische Geschichtswerk, dessen Wert als historische Quelle er durchaus schätzte. Die Herausgeber des Biblischen Kommentars vertrauten ihm die Fortsetzung des von Noth begonnen Königekommentars an und beriefen ihn später selbst in den Herausgeberkreis.
Thiels umfassende Kenntnisse des Alten Vorderen Orients und seiner Religionsgeschichte, verbunden mit einer profunden Kenntnis der altorientalischen Sprachwelt, weisen darauf hin, dass er die Auslegung des Alten Testaments konsequent in diesem Horizont verstanden hat. Folgerichtig betreute er über viele Jahre hinweg den alttestamentlichen Teil der Orientalistischen Literaturzeitung.
Winfried Thiel verstand sich zuallererst als Anwalt der alttestamentlichen Überlieferung und ihrer Schöpfer und Tradenten. In seinen literarischen und historischen Urteilen wog er sorgsam ab. Das war für ihn zur Selbstverständlichkeit geworden, „weil es dem Selbstverständnis des größten Teils des Alten Testaments entspricht und nicht von außen kommende Interpretationsschemata, seien es dogmatische, seien es philosophische, seien es thematische nach willkürlicher Auswahl, an die Texte heranträgt und sie dadurch ihres eigenen Wortes beraubt.“ (W. Thiel, Alttestamentliche Wissenschaft in Selbstdarstellungen, hg. von S. Grätz u. B.U. Schipper [2007] S. 295).
Das Rhein-Main-Exegesetreffen wird Winfried Thiel ein ehrendes Andenken bewahren.
(Aus dem Nachruf von Prof. Dr. Hanna Roose, Bochum)
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